REITERJOURNAL-EXTRA 2019 - Sonntag
Sonntag, 17. November 2019 Rei ter journal -Ext ra Seite 13 S teve Guerdat spricht leise und manch- mal auch gar nicht. Aber das täuscht. Der 37-jährige Springreiter aus dem Schweizer Jura hat gewaltig etwas zu sagen. Und das tut er auch. Seit zehn Monaten – und das ist im dynamischen Springsport eine halbe Ewigkeit – steht Guerdat an der Spitze der Weltrangliste. Selten war eine Nummer eins der Welt unangefochtener als er, der Olympiasieger von 2012 und Welt- cupsieger der Jahre 2015 und 2016. Im Sattel ist er ein Überzeugungstäter, un- glaublich fokussiert und konzentrationsfä- hig. Der Stuttgarter Turnierleiter Kai Huttrop-Hage, der ihn gut kennt und manch- mal im Training besucht, erzählt gerne die Anekdote, als er einige Minuten lang am Reitplatz stand und nicht wahrgenommen wurde. Er fürchtete schon, Guerdat sei aus irgendeinem Grund gekränkt oder beleidigt, konnte sich allerdings keinen vorstellen. Erst als der Reiter zum Schritt durchparierte, die Zügel lang ließ und die Trainingsstunde beendete, merkte der Besucher, was los war: Guerdat war so konzentriert auf sein Pferd, dass er die Umgebung einfach ausgeknipst hatte wie eine Nachttischlampe. Freundlich begrüßte er seinen Gast, als die Antennen wieder ausgerichtet waren. Man sollte nicht versuchen, mit dem Mann einen schnellen Small Talk zu führen. Das geht schief. Steve Guerdat verabscheut Oberflächlichkeit. Deshalb wirkt er auf man- che Menschen arrogant oder abweisend. Er muss bei niemandem gut Wetter machen. Mit dem Pferdesport beschäftigt er sich hin- gegen intensiver als die meisten seiner Kol- legen. Über Pferde und ihren besonderen Charakter kann er unendlich reden – wie ein Psychologe. Langsam und bedacht. Die grü- nen Augen mustern aufmerksam den Ge- sprächspartner, um sicher zu sein, dass er ihm auch konzentriert folgt. Er will keine Worte verlieren, er will sie setzen. „Wenn ich reite“, beschreibt er, „will ich zu meinem Pferd eine Beziehung entwickeln“. Deshalb liebt er sensible Pferde, zu denen er erst einen Draht finden muss. Der Franzose Venard de Cerisy ist ein sol- ches Pferd. Guerdat wird den zehnjährigen Wallach heute Mittag im Großen Preis von Stuttgart einsetzen. Er reitet ihn seit drei Jahren, anfangs war es schwierig. „Ich hatte Geduld mit ihm, jetzt gibt er mir etwas zu- rück“, beschreibt er. In diesem Jahr siegte er mit ihm in den Großen Preisen von Spruce Meadows und St. Gallen. „Es ist fantastisch, wie er sich entwickelt hat“, schwärmt er. Klar, dass der elffache Weltcup-Finalist auch im heutigen Weltcup-Springen zum Kreis der Favoriten gehört. Vor zwei Jahren siegte er hier in Stuttgart im Sattel der Stute Han- nah. Es war sein bislang einziger großer Er- folg in der Schleyer-Halle. Er wäre mal wie- der dran. Es gibt einige Experten, die ihn heute auf der Rechnung haben. Das Turnierreiten ist Guerdats Mission – und seine Botschaft. „Das Größte in meinem Le- ben“, sagt er, „sind Pferde, und dann kommt gleich der sportliche Wettkampf.“ Und dann: Foto: TOMsPic
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